Wer zuerst stirbt ...

    Plötzlich hörten sie aus dem Haus einen Schlag und sofort darauf einen Schrei.
    Kramer sprang die Treppen hinunter und rannte über den Rasen nach rechts in Richtung Garten. Biernatzky hämmerte an die Tür. „Aufmachen, Polizei!“
    Kramer musste sich durch dichtes Gebüsch kämpfen, ehe er den Garten erreichte. Dass er an den Dornen hängen blieb, nahm er kaum wahr. Er wischte sich das Blut vom Handrücken. Suchend blickte er die Hauswand entlang. Auf dieser Seite waren an allen Fenstern die Rollläden herunter gelassen.
    Er rannte weiter. Auf der Rückseite des Hauses lag die Terrasse, an die sich das Wohnzimmer anschloss. Biernatzkys Rufe waren auch hier noch zu hören. Endlich hatte er das Küchenfenster erreicht. Er musste sich am Gitter hochziehen, um hineinschauen zu können. Die Schrauben in der Wand knackten unter seinem Gewicht.
    Er sah sie sofort. Genau das, was diesem verdammten Fall noch fehlte: Eine Geiselnahme. Sein Atem ging flach und er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.
    Er konnte Schneider erkennen und Helena Riedenberg. Schneider hatte die Frau von hinten umklammert. Er hielt ein Messer, das er der Witwe an die Kehle drückte. Mit der anderen Hand zog er ihren verdrehten Arm auf den Rücken. Helena Riedenberg hing das Haar wirr ins Gesicht. Sie war totenbleich und starrte angstvoll an die Decke. An ihrer Hand lief Blut herunter. Auch ihr Rock und ihre Strumpfhose waren bereits blutig.
    Schneiders Kopf fuhr herum. Er sah Kramer und schubste seine Geisel in Richtung Fenster.
    „Hauen Sie ab, Mann“, schrie Schneider. Durch das geschlossene Fenster war er gedämpft, aber deutlich zu verstehen.
    „Lassen Sie die Frau gehen“, versuchte Kramer ihn zu beruhigen. „Es wird sich alles klären.“ Seine Kräfte ließen nach. Er sah nach unten und stemmte sich mit einem Fuß am Gartenwasserhahn ab, der seitlich unter dem Fenster angebracht war.
    „Verschwinden Sie“, gab der dunkelhaarige Mann zurück und drückte Helena das Messer noch enger an die Kehle.
    Die Küchentür ging auf. Schneider fuhr herum und riss die Frau mit sich.
    „Mama!“ Nathalie stand in der Küchentür und sah entsetzt auf das Messer.
    „Lauf weg!“, presste Helena Riedenberg hervor.
    Kramer sah, dass Schneider nicht wusste, wie er reagieren sollte.
    „Mach die Tür auf“, hörte er Biernatzky schreien. Der Kollege musste Nathalie gehört haben. Das Mädchen sah zum Eingang.
    „Von der Tür weg“, brüllte Schneider. „Sonst stech ich sie ab!“
    Es war offensichtlich, dass Nathalie überfordert war. Wieder hörte man Biernatzky an die Tür trommeln. Sie begann zu zittern.
    Kramer keuchte vor Anstrengung. Er holte Luft. „Geh in dein Zimmer“, rief er. „Tu, was deine Mutter dir sagt. Ihr wird nichts geschehen.“
    Nathalie liefen Tränen über die Wangen.
    „Nathalie! Geh.“ Helenas Stimme klang plötzlich ruhig. „Geh in dein Zimmer.“ Sie betonte jedes Wort einzeln.
    Kramer beobachtete, wie das Mädchen langsam rückwärts verschwand.
    „Schneider“, versuchte es Kramer erneut. „Lassen Sie die Frau los. Sie kommen nicht weit.“
    Aber Schneider reagierte nicht. Er ging auf die Küchentür zu, stieß seine Geisel dabei vor sich her und verschwand im Flur. Die Tür zog er zu, sodass Kramer nichts mehr sehen konnte.
    „Scheiße“, fluchte der Kommissar. Er rannte zurück in Richtung Terrasse und spähte durch die Fensterscheibe des Wohnzimmers. Nichts war zu sehen. Biernatzky kam vom Wagen zurück, wo er Verstärkung angefordert hatte. An der Haustür trafen sie zusammen.
    „Aufschießen?“, keuchte Biernatzky.
    Kramer zögerte. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Schneider fühlte sich bedroht. Doch es gab keine andere Möglichkeit.
    Er nickte. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht.
    Biernatzky zog seine nagelneue Heckler & Koch. Er feuerte zwei Schüsse ab. In der nachmittäglichen Stille hallten sie unwirklich nach. Keiner der Nachbarn konnte ahnen, was hier im Gange war. Die Haustür der Villa sprang auf. Ihre Waffen auf Augenhöhe vor sich gerichtet, gingen die beiden Beamten langsam den dämmrigen Flur entlang. Nirgends war ein Geräusch zu hören.
    „Wo sind die hin?“, flüsterte Kramer und sah sich systematisch um. Sie bewegten sich in Richtung Wohnzimmer. Während Biernatzky mit angewinkelten Armen neben dem Türrahmen stehen blieb, öffnete Kramer mit einem Tritt die Tür. Nichts.
    „Verdammt“, entfuhr es ihm.
    Biernatzky ließ die Arme sinken. Plötzlich wies er mit dem Kinn auf eine Tür, die einen Spalt offen stand. Langsam schoben sich die beiden näher. Diesmal war es Biernatzky, der der Tür einen Stoß gab. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit. Sie erkannten Treppenstufen, die in einen Keller führten. Kramer ging voran. Der dämmrige Schein des Flurlichts ließ ihn die Stufen nur erahnen. Biernatzky tastete nach einem Lichtschalter, als plötzlich ein weiterer Schrei zu hören war.
    „Hilfe!“
    Helena Riedenberg. Von draußen. Sie rannten zurück ins Wohnzimmer, rissen die Vorhänge beiseite und sahen sie.
    Schneider schleppte seine Gefangene, noch immer mit dem Messer am Hals, über den Rasen auf eine Hecke am hinteren Ende des Gartens zu. Er hielt sie fest umklammert und versuchte, ihr gewaltsam etwas in den Mund zu stopfen.
    Mit einem Satz sprangen die Kommissare auf den Rasen. Sie hoben fast gleichzeitig die Waffen und gingen langsamer. Schneider bemerkte sie sofort. Abrupt drehte er sich und ging rückwärts weiter, Helena Riedenberg als lebenden Schutzschild vor seinem Körper.
    „Ich warne Sie. Bleiben Sie, wo sie sind. Sonst ist sie tot! Hören Sie?“ Seine Stimme überschlug sich.
    Kramer sah, dass er es ernst meinte. Der Zustand des Mannes war so angespannt, dass sie kein Risiko eingehen durften.
    Die Situation schien ausweglos. Keine Scharfschützen auf dem Dach, die in Fernsehkrimis immer ein gutes Ende verhießen. Die beiden ließen die Waffen sinken.
    „Wo will er hin?“, zischte Biernatzky. „Da hinten ist nur die Mauer.“
    Schneider kontrollierte die eingeschlagene Richtung und wandte sich nach links, die Büsche entlang. Erst jetzt sahen die Polizisten den Durchgang, der in die Hecke geschnitten war.
    Schneider riss Helenas Kopf an den Haaren nach hinten. Er hielt ihren Schopf und den Arm, den er ihr auf den Rücken gedreht hatte, mit einer Hand fest. Sie konnte sich keinen Zentimeter bewegen.
    „Geben Sie auf, Schneider“, versuchte es Kramer erneut. „Die Kollegen sind gleich hier, Sie haben keine Chance. Machen Sie nicht alles noch schlimmer!“
    Schneider hatte den Durchgang erreicht und zwängte sich rückwärts hindurch.
    ...

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Osten. Geschichten von der anderen Seite der Welt

    "Jedes Mal, wenn man eine Weltreise nach Osten
    unternimmt, wird man einen Tag gewinnen."
    Jules Verne

    Mit Originalbeiträgen von Wolf Wondratschek, Thomas Palzer, Albert Ostermaier, Bettina Brömme u.a.

    Einmal um die Welt Richtung Osten
    Unter diesem Motto steht die Anthologie Osten. Geschichten von der anderen Seite der Welt. Das Buch enthält rund zwanzig Beiträge, von denen jeder für sich alleine stehen könnte. Als Sammlung ergeben sie eine einzigartige Reise, die den Leser von Berlin nach Wien, Krakau, Prag, Warschau und Sofia über Armenien in den Nahen, dann in den Mittleren und in den Fernen Osten führt. Von der Beringstraße aus geht es weiter nach Amerika. Bis wir auf Kuba landen - wo der Osten nur noch eine kleine Insel mitten im Westen ist.
    Auch im Osten trägt man Westen, hieß ein Wandspruch der Achtziger Jahre. Umgekehrt trägt man auch im Westen den Osten mit sich herum - zumindest als vage Vorstellung von einer fremden, aber auch sinnlichen und geheimnisvollen Lebensweise.
    Denn der Osten steht für die Quelle der Weisheit; für das wahre Leben - das im Westen oft nur noch als das richtige im irgendwie falschen begriffen wird.
    Unsere Autoren machen sich auf den Weg. Es geht Richtung Sonnenaufgang.

    Bettina Brömme erzählt in ihrer Geschichte “Der Hut vom Parfum-Fluss” von Saigon.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Mutters Tochter Vaters Sohn
    oder Wie ich meine Eltern kennen lernte

    Sie können wirklich nichts dafür. Sie haben sich einander nicht ausgesucht. Sie müssen miteinander klarkommen. Lebenslänglich: Eltern und Kinder - Mütter und Töchter, Väter und Söhne.

    Geschichten von: Birgit Vanderbeke, Simone Borowiak, Jenny Erpenbeck, Aglaja Veteranyi, Mario Wirz, Hans Pleschinski, Selim Özdogan, Thorsten Krämer u.a. über Erwartungen, Enttäuschungen, Forderungen, Annäherung, Entfremdung, Glück und Unglück.


    Vorspiel

    von Thomas Endl & Bettina Brömme

    Zuerst lieben die Kinder ihre Eltern. Nach einer gewissen Zeit fällen sie ein Urteil über sie. Und selten, wenn überhaupt je, verzeihen sie ihnen.
    Oscar Wilde

    Das Thema widersetzt sich eindeutig. Mütter und Väter sind nicht so leicht zu fassen. Als sich unser Autor Gerd Holzheimer daranmachte, über seine Eltern zu schreiben, scheiterte er schon an der Schilderung der Familiengründung. Der Computer verweigerte sich Holzheimers Erzählung und verwandelte Buchstaben seitenweise in Sonderzeichen. Das las sich dann so: „die Geschichte mit meinem Vater hätte im PrM!!LbsY*$' zu beginnen, wohin meine Mutter illegaler Weise mit dem Zug unN1O PQ1RS el bei Hof gereist war, um mich mit
    mein23 4 v zu zeugen.“
    Doch Verweigerung nützt gar nichts. Denn obwohl man sich seine Eltern nicht ausgesucht hat, muß man mit ihnen klarkommen. Das Urteil lautet immer: lebenslänglich. Und weil die Eltern-Kind-Beziehung dazu neigt, kompliziert, dramatisch, schicksalsträchtig und vor allem prägend zu sein, ist sie ein Thema, das zwar im Raum steht, aber viel zu oft unter den Teppich gekehrt wird. Angeregt von Everhard Hofsümmer haben wir 13 Frauen und 13 Männer gebeten, eine Teppichecke anzuheben und beherzt darunter zu schauen.
    Und siehe da - überraschend weit reicht der Blick. Es tauchen Väter auf, die nach den Kriegserfahrungen das Heil in der Familie suchen, Mütter, die es ein Leben lang schrecklich gut mit einem meinen, Söhne, die krampfhaft nach Worten suchen und Töchter, die für ein selbstbestimmtes Leben kämpfen müssen.
    Doch so schmerzlich mancher Blick auf die Eltern sein mag, so notwendig ist er auch. Familienforscher haben schon lange herausgefunden, daß die Auseinandersetzung mit den Vorfahren Bedingung ist, um die nötige Reife für ein selbständiges Leben zu entwickeln. Und das bringt einen nicht nur persönlich weiter, sondern auch die eigenen Kinder. Andernfalls ist die Gefahr groß, daß negative Verhaltensmuster von Generation zu Generation weitergegeben werden und man sich in den Rollen wiederfindet, die in jeder Familie fast zwanghaft immer aufs Neue vergeben werden: das Opfer, der Retter, die Verfolgerin, der Rebell, der Helfer, das schwarze Schaf. Man tut gut daran, sich mit den Eltern auszusöhnen. Spätestens dann, wenn man von den eigenen Söhnen und Töchtern die unvermeidlichen Erziehungsfehler vorgehalten bekommt, hofft man nämlich selber auf Vergebung.

    Die Geschichten dieser Anthologie spannen den Bogen nicht nur über ein ganzes (Familien-)Leben, sondern über Generationen hinweg, erzählen ein wenig vom ewigen Fluß: Seine turbulente Zeugung malt sich Dietmar Bittrich in bunten Farben aus, während Birgit Vanderbeke und Christine Nöstlinger das Ausgeliefertsein der Kinder an die Eltern schildern; Simone Borowiak nimmt prägnant die Alltagskämpfe einer Teenagerin aufs Korn, und Alissa Walser begibt sich im selben Alter gar in direkte Konkurrenz zu ihrer Mutter. Asta Scheib und Dagmar Schmidt gehen hier den umgekehrten Weg und suchen den Gegenentwurf zum mütterlichen (Vor-)Leben. Wie fremd und geheimnisvoll das Leben der Eltern den Kindern oft bleibt, weiß Jenny Erpenbeck. Bei Hans Pleschinski wird deutlich, wie stark sich das Alltagsleben von einer Generation zur nächsten verändert hat. Den Auszug aus dem Elternhaus und die Hoffnung auf die Anerkennung durch den Vater zeichnet Marcus Brühl nach, und Mario Wirz versucht, sein Leben ganz ohne Vater einzurichten. Wie es weitergeht, wenn man selber Vater oder Mutter geworden ist, davon berichten „Superdads“ wie Helge Hopp, Michael Fitz und Christoph Vormweg sowie „neue“, nämlich berufstätige Mütter wie Angelika Wellmann. Der erwachsene Blick auf die Väter scheint versöhnlich, wenn auch nicht immer frei von Kommunikationsproblemen - Selim Özdogan, Kolja Michovski und Thorsten Krämer beobachten das genau. Daß es zu Resignation führen kann, die Mütter so akzeptieren zu müssen, wie sie sind, erzählen Ute-Christine Krupp und Hung-min Krämer. Wenn die Eltern alt werden, kehren sich die Rollen um, nun sind die Kinder gefragt, ihren hilfsbedürftigen Eltern beizustehen - daß die Verantwortung hierfür noch immer von den Frauen getragen wird, scheint so selbstverständlich zu sein, daß es in den Texten von Christa Feuerbacher und Anne Spanhel fast nur en passant erscheint.
    Fügt man das Puzzle zusammen, zu dem die einzelnen Geschichten Bausteine liefern, fallen vor allem zwei Dinge auf: Begreifen die männlichen Autoren ihren Vater eher als Individuum, der auch noch ein Leben außerhalb der Familie führt, der eben nicht nur Vater, sondern auch Mann ist, schildern die Autorinnen das Leben ihrer Mütter fast immer im Kontext Familie. Und hier scheinen sie in einen Kampf verstrickt zu sein, der die Abnabelung und damit den freien Blick auf die Mutter erschwert. Bei den Männern dagegen wirkt das Bild vom Vater oft sachlich, distanziert, fast kühl. Betrachtet man die immer noch übliche Rollenverteilung in der Familie ist das nicht verwunderlich. Die Väter gehen ihrer Arbeit nach und sind mehr Besucher im eigenen Haus, während die Mütter immer noch viel mehr Zeit mit den Kindern verbringen und sich so mehr Reibungsfläche ergibt. Mit einem Wort: Die Männer ringen vor allem um Nähe zum Vater, die Frauen ringen um Abstand von der Mutter.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Durchgedreht

    Szene 26: Am Set / Flussufer                     A/T

    Utz saß zusammengesunken in seinem Regiestuhl. Es war mal wieder ein einziges Irrenhaus. Sie hatten eine Szene vorziehen müssen, weil Georg Mayer als Double für Felix erst am Nachmittag zur Verfügung stehen würde. Dann hatte sich Heimo geweigert, mit nacktem Oberkörper zu spielen, und eine der Ein-Tages-Rollen hatte wegen Lampenfieber so viel getrunken, daß sie vor der Kamera nur lallen konnte. Zu allem Überdruß hatten die Absperrer alle Hände voll zu tun, um neugierige Journalisten, die mehr oder minder unauffällig das Gelände umkreisten, in Zaum zu halten. Jetzt bemühten sich Rüdiger von der Kamerabühne und Derek, der Beleuchter, seit 20 Minuten darum, eine verklemmte Schiene für den Dolly in den Griff zu bekommen. Siebenmal hatten sie die Kamerafahrt bereits gemacht, doch nie war Utz zufrieden gewesen. Mal war die Kamera zu schnell, dann wieder zu langsam, der Schwenk endete nicht am vereinbarten Punkt oder Mark war mit der Schärfe nicht hinterhergekommen. Thomas Koch sah derweil mit seinem geschulten Blick besorgt in den Himmel.
    “Wenn’s jetzt auch noch zu regnen anfängt, können wir die Szene komplett löten”, sagte er. “Das stimmt mit unserem Lichtkonzept überhaupt nicht überein.” Er tätschelte seine Kamera und sah Utz zweifelnd an. Der Regisseur ließ den Kopf frustriert hängen und schwieg. Helge versuchte, die acht Statisten bei Laune zu halten, die er schon vor einer guten dreiviertel Stunde in ihre Plätze eingewiesen hatte. Selbst hier auf dem Land wurden die Komparsen immer dreister und verlangten mittlerweile sogar, vom Caterer kostenlos mitversorgt zu werden. “Okay”, kam Rüdiger endlich angeschlappt. “Geht alles wieder.” Utz streckte dankbar die Hände gen Himmel, auch Thomas gab sein Okay, die Wolken hatten sich verzogen. Doro, die Setaufnahmeleiterin, wirbelte in Richtung der Garderoben davon, um Greta und Heimo zu holen. Helge gab seinen Statisten die letzten Instruktionen, und keine fünf Minuten später waren alle drehfertig.
    Greta sah bezaubernd aus in ihrem mädchenhaften, leicht durchsichtigen Kleid. Heimo, ganz gentlemanlike im schokoladenbraunen Anzug mit Halstuch und zartem Menjou-Bärtchen, hatte sich während der Wartezeit in seine Dialoge vertieft. Er wußte, daß diese Szene für seine Rolle eine Schlüsselbedeutung hatte. Während er in seiner Nazi-Rolle der scheinbare Sieger war, spielte er als Nebenbuhler von Robert Engelbrecht, also Felix’ Part, den Unterlegenen. Und in dieser Szene nun konnte er zeigen, dass sein Manuel zwar der Verlierer war, aber daß er seine Würde behielte. Man würde die Güte und Großzügigkeit seines Handelns, wenn er Greta-Tirza das wichtige Tagebuch aus der Nazizeit überließ, aus jeder seiner Poren herauschießen sehen. Der Zuschauer sollte ihm hier ein Paar Tränen schenken - nicht mehr und nicht weniger wollte Heimo erreichen. Er sah zu Greta hinüber, die schon auf der Parkbank vor der Trauerweide saß und gelangweilt mit ein paar Grashalmen spielte.
    “Kamera läuft.”
    “Ton läuft”.
    “Entschuldigung, Utz, nur kurz”, wandte Heimo das Wort an seinen Regisseur. Der sah ihn ungeduldig an.
    “Ich überlege gerade, ob ich Tirza nicht lieber einen Strauß Wiesenblumen mitbringen sollte anstelle dieser Rosen. Weißt du, ich glaube, Manuel könnte dadurch beweisen, daß er - trotz seines Alters - ja durchaus noch fähig zur Veränderung ist. Daß er noch flexibel ...”
    “Ich weiß nicht”, brummelte Utz. “Steffi, haben wir Wiesenblumen?” Die Innenrequisiteurin verneinte, und Utz überhörte ihren Vorschlag, schnell ein paar zu pflücken.
    “Nee, nimm ruhig die Rose”, wandte er sich an Heimo. “Ich glaub’ der Zuschauer will nicht, daß sich Manuel verändern könnte. Die sind froh, wenn der geile Bock die Heldin endlich in Ruhe läßt, verstehst du?! Eindeutigkeit ist hier gefragt - ein klarer Weg.” Heimo hatte während Utz’ Worten immer heftiger zu nicken angefangen, drehte sich nun um und ging weiternickend an seinen Platz. Nur seine Finger spielten nervös mit dem Kopf der gelben Rose.
    “Kamera läuft.”
    “Ton läuft”.
    “Szene acht, die achte”, sagte Jens, der junge Materialhelfer. “Schnapsklappe auf Heimo.”
    “Bitte”, sagte Utz.
    “Ähm, entschuldige noch mal”, begann Heimo. “Aber die Schnapsklappe - ich würde das gerne verschieben, ich kann mich da diese Woche gar nicht drum kümmern - nächste Woche - laßt uns doch da schauen, ob sich was ergibt, ja, ich danke euch. Jetzt könnten wir dann.”
    Jens stupste Mauro an und verdrehte die Augen, der Tonassi grinste und tat so, als ob er Heimo seine Angel überbraten wolle.
    “Könnten wir? Schön.” An Utz’ Tonfall ließ sich eine gewisse Gereiztheit nicht überhören. Heimo lächelte dankbar.
    “Kamera läuft.”
    “Ton läuft”.
    “Szene acht, die achte”, sagte Jens. “Schnapsklappe auf Greta.”
    “Bitte”, sagte Utz.
    Greta stand von ihrer Bank auf und ging einen Schritt auf Heimo zu. Die Kamera bewegte sich in der selben Geschwindigkeit, in der sich die beiden einander näherten. Am Ende der Fahrt lag der Ausschnitt in einer Halbnahen auf den Gesichtern von Greta und Heimo. Heimos Schmerz war nicht zu übersehen. Wenn er gemußt hätte, hätte er auch zu weinen angefangen. Gretas Kühle stand in wunderbarem Kontrast zu seiner Aufgewühltheit. Utz spürte, wie sein Atem ruhiger wurde, während er in den kleinen Monitor vor sich starrte. Ja, so hatte er sich das vorgestellt.
    “Und danke”, rief er. “Von meiner Seite aus gestorben.”
    “Utz, entschuldige”, Heimo kam wieder auf ihn zu. “Ich würde das gerne noch mal machen. Irgendwie habe ich nicht die richtige Beziehung zu Tirza herstellen können. Irgendwas hat da nicht gepaßt.”
    “Nein, mein Lieber, das war ganz wunderbar. Die ist gestorben, wirklich.” Heimo biß sich auf die Unterlippe und ließ Utz nicht aus den Augen.
    “Bitte”, sagte er. “Einmal noch.”
    Utz fixierte den Boden. Seine Füße fühlten sich wie festgewachsen an. Als ob er nie wieder einen Schritt würde gehen können. Schließlich sah er hoch.
    “Ähm”, unterbrach ihn Sabrina. “Utz, was mir gerade klar wird: Greta hat das Armband nicht um.”
    “Welches Armband?”
    “Na, wenn wir sie im Badezimmer stehen sehen, während sie sich für das Treffen mit Manuel zurecht macht, sehen wir, wie sie sich das goldene Armbändchen ihrer Großmutter ums Handgelenk macht. Das brauchen wir.” Sabrina sprach kühl und emotionslos wie immer. Eigentlich wäre die Continuity die Idealbesetzung für eine der KZ-Aufseherinnen gewesen.
    “Und das sagst du mir jetzt. Nach acht Takes.”
    “Besser spät als nie.”
    Utz fühlte, wie sein Herz zu rasen begann. War er in seinem Alter nicht schon sehr herzinfarktgefährdet?
    “Anja! Elfi!” schrie er in Richtung der Garderobe. Elfi bewegte sich mit eingezogenem Kopf langsam in seine Richtung.
    “Ja”, begann sie leise. “Das Armband - ja. Ich weiß nicht, auf den Anschlußpolas ist es ja drauf. Aber ...”
    “Da ist es drauf? Aha.” Utz begann mit einer ziemlichen Lautstärke. “Verdammt noch mal - was ist das hier für ein Sauhaufen! Ich bin von lauter Verrückten umgeben, die nichts, aber auch gar nichts von ihrem Job verstehen! Wer sucht denn diesen ganzen Abschaum aus und schmeißt ihnen Geld vor die Füße, von dem sie nicht einen einzigen Pfennig verdienen! Ich will jetzt dieses scheiß-blöd verfickte Armband um das Handgelenk dieser Frau da sehen - und zwar in 30 Sekunden!” Mit ausladenden Bewegungen und zitterndem Arm zeigte er auf Greta, die an ihrem Zeigefinger knabberte, während sie ein Bein um das andere geschlungen hatte. Hinter Elfie tauchte jetzt Anja auf. Die Garderobiere legte ihrer Kollegin die Hand auf die Schulter - eine Geste von Anteilnahme, die bei ihr etwa einmal pro Schaltjahr zu erwarten war - und sah Utz trotzig in die Augen. An ihrem Finger baumelte ein grobgliedriges, goldenes Halskettchen.
    “Geht das auch?” fragte sie emotionslos. Utz drehte sich um, hob seinen Regiestuhl an beiden Lehnen hoch, weit hoch, bis über seine Kopf und rammte ihn dann in den Boden. Das tat er noch mal. Und noch mal. Sein Gesicht war hochrot. Seine Augen weit aufgerissen. Helge sah auf die verstaubten Schuhspitzen seiner Cowboystiefel, Thomas fuhr gedankenverloren mit einem feinen Pinsel über seine Kameralinse. Mark und Mauro gingen in kleinen Schritten rückwärts, als wäre hier, rund um die Trauerweide, die Atemluft verpestet. Es herrschte absolute Ruhe. Utz ließ sich erschöpft in den Stuhl fallen und preßte die Hände an seine Schläfen. ‘Das gibt es nicht, das gibt es doch gar nicht, was tue ich hier, das ist alles nur ein böser Traum’ wiederholten sich die Worte monoton in seinen Gehirnwindungen. ‘Ich mache jetzt die Augen auf, und vor mir liegt das Meer, und eine barbusige Frau bringt mir einen Jack Daniels auf Eis.’ Langsam hob er den Kopf. Sein Nacken schmerzte absurd vor Anspannung. Alle sahen ihn an. Am liebsten hätte er geweint.

     

     

     

     

     

     

     

     

    Sommerfinsternis

    1. Susanna telefoniert

    Im Sommer vor der Jahrtausendwende verlor Susanna ihre Arbeit, ihre Tochter verlor ihre Jungfräulichkeit und ihre Schwiegermutter den Verstand.

    Susanna hatte später lange versucht, sich an den genauen Zeitpunkt zu erinnern, an dem alles angefangen hatte. Sie vermutete, dass es an einem Samstagabend gewesen war, knapp zwei Wochen vor Beginn der großen Ferien, also kurz vor Sommeranfang. Zuerst hatte sie mit Nina gestritten, und dann kam der Anruf von Conny.

    Das schwüle Wetter hatte Susanna Kopfschmerzen bereitet, und obwohl die Luft allmählich abkühlte, hatte sie mißmutig in der Küche beim Abendbrot gesessen, ohne erklären zu können, was ihre schlechte Laune verursacht hatte. Das Kopfweh allein war es nicht. Sie war erstaunt, als sich Nina zu ihr an den Tisch setzte. Schweigend beobachtete Susanna, wie sich das Mädchen eine Brotscheibe nahm und diese dick mit Butter und Käse belegte. Gemeinsame Mahlzeiten waren selten geworden in der letzten Zeit. Bis Susanna abends zu Hause war, hatte Nina schon oft mit ihrer Großmutter gegessen und war auf dem Sprung, eine Freundin zu besuchen. Oder sie hatte sich zu stundenlangen Telefongesprächen zurückgezogen, für die ein Großteil ihres Taschengeldes draufging. Meist aber saß sie, versunken Fingernägel knabbernd, vor dem Fernseher und reagierte gar nicht, wenn Susanna sie ansprach.

    "Mama", sagte Nina kauend und ließ ihren Blick unkonzentriert in den Garten wandern, wo man in der alten Buche hinterm Zaun die Reste ihres Baumhauses erkennen konnte, die der nächste Sturm sicher endgültig herunterfegen würde. Susanna legte die Hand auf den Unterarm ihrer Tochter.

    "Mama", wiederholte Nina und entzog sich ihrer Mutter, "ich werde von der Schule abgehen. Du brauchst gar nichts mehr zu sagen, das steht absolut fest. Oma hat versprochen, sie hilft mir dabei, eine Lehrstelle zu finden. Vielleicht auch erst mal nur 'n Aushilfsjob. Im Café oder so." Sie hatte so viel Energie für den standfesten Ausdruck in ihrer Stimme verbraucht, dass die letzten genuschelten Worte kaum zu verstehen waren. Aber "Schule abgehen" und "Oma" waren bei Susanna um so deutlicher hängen geblieben. Sie warf ihrer Tochter einen kurzen Blick zu, den diese nicht erwiderte.

    "Aha", sagte Susanna dann und betrachtete den Tomatensalat vor sich. "Paß auf, da ist 'ne Fliege." Nina zielte mit ihrem Messer in die Schüssel und fischte das kleine, schwarze Insekt vorsichtig zwischen den Tomatenscheiben heraus.

    "Ich find' das 'ne super Idee." Der Satz schien Nina als Erklärung zu genügen. Sie schnitt sich ein weiteres dickes Stück Käse ab und bestrich es mit Butter. "Tja, ich weiß nicht." Susanna legte vorsichtig ihr Besteck neben die Salatschüssel und sah ihre Tochter hilflos an . Ninas Lippen glänzten fettig von Butter und Käse. Susanna spürte den drückenden Schmerz unter ihrer Schädeldecke pochen.

    "Mußt du immer so in dich hineinschaufeln? Das macht total fett!", sagte sie schließlich und wußte sofort, dass es das Falsche war. Nina stand auf und verließ die Küche. Susanna hörte, wie sie die Treppenstufen nach oben polterte. Edith würde dem Mädchen jetzt sicher die Reste vom Mittagessen aufwärmen.

    Was hätte sie ihr denn sagen sollen? Susanna wollte sich die Zukunft ihrer einzigen Tochter nicht in dunklen, tristen Farben ausmalen. Sie wollte sich nicht vorstellen müssen, wie Nina in einer blutig verschmierten Schürze, aus der ihre immer üppiger werdenden Formen quollen, mit strähnigem Haar, das ihr ins picklige, schwammige Gesicht hing, unwillig einem alten Mütterchen zuhörte, das 50 Gramm Rügenwälder verlangte. Und das wäre noch das Beste, was ihrem Kind ohne Abitur zustoßen könnte, davon war Susanna überzeugt. Acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche in eine Wursttheke glotzen! Nina konnte ausgesprochen stur sein, dickschädelig wie eine Heidschnucke. Dabei war sie intelligent, sie lernte leicht. Ohne Anstrengung waren ihre Noten schlichtweg sehr gut - die ganze Welt würde ihr später offen stehen. Wenigstens das wollte Susanna ihr bewahren: die Möglichkeit, später all das tun zu können, wozu sie Lust haben würde - Anwältin werden oder Ärztin, Lehrerin oder Schauspielerin, irgend etwas jedenfalls, das sie sich selber auswählen könnte.

    dass Edith bei dieser hirnrissigen Idee Geburtshilfe geleistet hatte, davon war Susanna überzeugt. Und sicher hatte es Edith nur deshalb getan, damit sie mal wieder deutlich zeigen konnte, dass sie einen anderen Standpunkt als ihre Schwiegertochter vertrat. Angewidert schob Susanna den inzwischen ziemlich matschigen Tomatensalat beiseite und stand so mühsam auf, als sei sie nicht 34, sondern mindestens 74.

     

     

     

     

     

     

     

     

    Ein Herz und eine Serie
    Fernsehgeschichten

    Achtung! Die Autoren dieses Buches gestehen: Wir sind Serientäter! Allesamt! Wir haben unsere Jugend vor dem Fernseher verbracht, Woche für Woche, Folge für Folge. Und wir bereuen nichts!

    Wenn die Autoren von "Ein Herz und eine Serie" tief in der "Flimmer"-Kiste ihrer alten und neuen Erinnerungen kramen, werden die Bekannten vom Bildschirm wieder lebendig - und vermischen sich mit ganz persönlichen Lebensgeschichten. Keiner kann dann noch genau sagen, ob die Szenen, die da aufleben, direkt aus der Lieblingsfernsehserie stammen oder nicht doch aus dem echten Leben. Da wird Nachbars "Lassie" von einem Kleinwagen überrollt, da lernt der wissbegierige Laie in Dr. Greenes "Emergency Room", einen Bypass zu legen, da übernehmen die Ewings aus "Dallas" die volkseigenen Buna-Werke in Schkopau.

    Es sind Geschichten jener Generation, die mit TV-Serien aufgewachsen ist, die Fernseh-Helden und -szenen im kollektiven Gedächtnis gespeichert hat - vom wilden Westen in "Bonanza" bis zur Endlossoap "Lindenstraße". Und darüber hinaus legen die Erlebnisse vor dem Fernseher ein Zeugnis ab über den Alltag in diesem Land.

    42 beispiellose Bekenntnisse zu den wahren Folgen des Fernsehens: amüsant und analytisch, faktenreich und fiktiv, kunterbunt und kurios. Von Ralf König, Elke Heidenreich, Mario Wirz, Keto von Waberer, Helge Hopp, Christoph Deumling, Hans Pleschinski, Rainer Moritz, Bettina Brömme, Thomas Endl und vielen Serieninfizierten mehr.

    Mit Geschichten zu:
    Auf der Flucht, Augsburger Puppenkiste, Ausgerechnet Alaska, Bonanza, Dallas, Der Denver-Clan, Emergency Room, Flash Gordon, Flipper, Das Geheimnis von Twin Peaks, Golden Girls, Das Haus am Eaton Place, Irgendwie und sowieso, Kommissar Rex, Kottan ermittelt, Lassie, Lederstrumpf, Liebling Kreuzberg, Die Lindenstraße, Männerwirtschaft, Die Märchenbraut, Magnum, Marienhof, Michel aus Lönneberga, Mit Schirm, Charme und Melone, Münchner Geschichten, Nadine und die Olympiade, Oh Gott, Herr Pfarrer, Patrik Pacard, Raumschiff Enterprise, Salto Mortale, Seinfeld, Die Simpsons, Tarzan, Tatort, Unterwegs mit Odysseus, Verliebt in eine Hexe, Die Waltons, Wickie und die starken Männer, Die Zwei

    Textauszüge

    Thomas Endl
    Ausgerechnet Alaska!
    Träume sind Schäume sind furchtbar viele Bäume

    27. Juni 1998
    2.40 Uhr - Warum hat der Elch meinen Bagel aufgefressen, und was hatte das blöde Vieh eigentlich zu suchen bei Sweetie's in der 22nd Street/Ecke Broadway? Was sollte das heißen, als er zwischen den Kiefern hervorkaute "Hi, ich bin Maggie. Wir können jetzt los, aber du wirst einen dickeren Mantel brauchen." Bevor ich antworten konnte, umtoste mich eisiger Wind. So schneidend, dass ich bibbernd erwachte.

    Vielleicht hat Tina recht: Ich bin viel zu empfindlich. Ist ja wirklich lächerlich - kaum sehe ich im Fernsehen ein paar Leute, die die Träume von anderen träumen, scheint es mir schon genauso zu gehen. Als ob auch ich hier, mitten in München, so 'ne polare Aurora Dingsbums vor der Haustür hätte, die mir das Hirn verdreht so wie denen in dieser Serie. Als ob ich Dr. Joel Fleischman wäre, den es als Arzt von Manhattan ins allerhinterletzteste Kaff von Alaska verschlägt, nach Cicely. Staubige Sommer- oder schlammige Winterwege zerteilen die Kleinststadt in die Bühnen des allwöchentlichen Dramas. Hier das Brick von Holling und Shelly mit Elchburger-Menüs und anderen leckeren, landestypischen Gerichten, dort der Tante-Ruth-Anne-Laden mit allem, was das Herz begehrt (wenn es nicht gleich sein muß, sondern ein paar Wochen dauern darf), hier KBHR [Käi-Bär], die Radiostation mit dem philosophisch-transzendentalen-und-unglaublich-sexy-durchblickenden DJ Chris-am-Morgen, dort schließlich die Praxis des böse und gemein hier ausgesetzten Arztes. Ich bin mir sicher, die Bürger von Cicely sind verrückt!

    Die Drehbuchautoren wollen uns weiß machen, dass dies vorübergehende Phasen seien. Etwa, wenn die Eisplatten brechen, um dem Frühling Platz zu machen, oder wenn diese Aurora-Lichter herumgeistern, oder wenn es zuviel Sonnenfleckenaktivität über Cicely gibt, oder wenn Maggie O'Connells Lover vom niederstürzenden Satelliten erschlagen wird. Da trifft sich dann die schwangere Shelly mit Mutter Erde höchstpersönlich im Wald zum Erfahrungsaustausch, jagt der junge Indianer Ed seinem ganz persönlichen, grasgrünen Dämon hinterher und sitzt Joel im Knast mit einem gewissen Sigmund Freud und lernt Profundes über die Psychoanalyse.

    Zugegeben, sie alle sind spannender als die Menschen meiner Heimatkleinstadt. Da prägten eher Bürgerinnen das Bild, die im beigen Kostüm ihren beigen Dutt durch ihre beige Buchhandlung trugen, und Bürger, die unsere Kirchenzeitung tapfer auf dem rechten Pfad entlangleiteten, während die Söhne in der sündigen Großstadt vom selbigen abrutschten und in lustigen Lederhosenfilmen unter luftigen Dirndln landeten. Fast schon ein Glück, dass ich nicht davon alpträume. Dann vielleicht doch lieber wieder Alaska heut' Nacht? (...)

    Bettina Brömme
    Salto Mortale
    Der Todessprung der Liebenden

    Mein Fahrrad war rot, hatte eine blonde Mähne und trug mich durch die ganze Welt. Es fraß Zuckerstückchen, wenn ich es dafür belohnte, dass es mich schnell davongetragen hatte, fort von den Verfolgern, meine dunklen Haare vom Wind gezaust. Manchmal lief hinter dem Fahrrad brav das kuschelweiche Tigerbaby her, das sich nur von mir streicheln ließ und alle anderen kratzte und biß. Abends kamen Fahrrad und Tigerbaby in den Stall im Keller des Mietshauses und der Zauberkasten aus dem Regal.

    Ziehe eine Karte, och bitte, ziehe eine Karte. Merke sie dir und stecke die Karte zurück. Abrakadabra! Diese Karte, oder? Es war diese Karte, gell! Eins war klar: Ich würde zum Zirkus gehen, wenn ich einmal groß wäre. Entweder als Clown wie im Fasching, als Zauberin, als Tigerdompteuse oder als Kunstreiterin oder nein, am besten als Hochseilartistin. Und dann wäre da Sascha, der Fänger, und der hielte mich nicht nur beim Todessprung mit verbundenen Augen, der hielte mich auch am Boden in seinen starken Armen ganz fest.

    Kleine Mädchen schwärmen für Pferde, Enid-Blyton-Romane, Barbie-Puppen und farbenfrohe Liliputaner-Hochzeiten im Märchenpark. Und kleine Mädchen schwärmen für große, hübsche Männer. Mein erster Mann war Sascha Doria, der Fänger am Trapez der berühmten und wunderbaren Artistenfamilie Doria. Später war er dann der Bastian, noch später war ich zu alt und er nur noch Horst Janson. Aber als ich sieben war, packte mich die erste Liebe und die Erkenntnis, wie das mit der Liebe funktioniert. Mit glühenden Wangen hockte ich vorm Apparat, vor "Salto Mortale", das Kinn auf die Hände gestützt, an der Zopfspitze kauend und alle Erwachsenen um mich herum mit einem fast gekreischten "Pscht" verfluchend, wenn sie auch nur zu laut atmeten. Schließlich mußte ich immer unerträgliche, schrecklich lange 14 (vierzehn!) Tage warten, bis eine neue Folge lief. (...)

    Sandra Vogell
    Die Waltons
    Die Säulen der Demokratie

    Rache ist süß! Als mein Freund mich zum dritten Mal in einer Woche mit dem blöden Spiel triezte: "Nun sage mir, ob du alle Ministerpräsidenten der Bundesrepublik mit Vor- und Nachnamen kennst, und zähle sie von Nord nach Süd auf", konterte ich mit einem diabolischen Grinsen: "Okay Baby, aber erst sage du mir, wie die Kinder der Waltons mit Vornamen heißen und zähle sie schön nach Alter sortiert auf!" Obwohl es bedeutend weniger Waltons-Kinder gibt als Ministerpräsidenten, habe ich gewonnen. John-Boy, Mary-Ellen, Jason, Erin, Ben, Jim-Bob und Elisabeth. Zusammen mit ihren immergütigen Eltern und dem knuddeligen Opa haben mich die Waltons durch meine Kindheit begleitet. (Klar, es gab auch eine Großmutter. Ich will sie hier nicht unterschlagen, aber ich mochte sie nie besonders. Für meinen Geschmack war sie immer zu hager und zu fromm.)

    Alles begann mit dem Aufschrei, der Mitte der 70er Jahre durch die deutschen Fernsehzeitschriften ging: Die ewig reitenden und streitenden Bonanza-Jungs wurden fortan nur noch jede zweite Woche gesendet, die Waltons übernahmen die anderen Sonntage. Tief befriedigt, weil ich Pferde, Staub und vorlaute Männer schon als Kind nicht ausstehen konnte, bezog ich einträchtig mit meiner Mutter vor dem Fernseher Stellung.

    Gleich der Vorspann hat mich völlig verwirrt. Vater Walton fährt mit dem Auto vor dem Haus vor - er kommt wohl gerade von der Arbeit, dachte ich mir - er hupt kurz, und schon stürzen alle seine Kinder, seine Frau und die Großeltern freudig erregt aus dem Haus, um ihn zu begrüßen. Mutter Olivia läßt den Kochlöffel fallen, Jim-Bob den Schraubenzieher, Mary-Ellen die Haarbürste, John-Boy die Schreibmaschine - alle rennen euphorisiert zur Haustür, als hätten sie gerade im Lotto gewonnen und könnten endlich Scheiß-Waltons-Mountain hinter sich lassen. Aber nein, kein Lottogewinn, die große Aufregung hatte lediglich den Grund, dass Daddy nach Hause kommt.

    39 Folgen lang hat mich diese Eingangssequenz in ehrliches Erstaunen versetzt. "Wenn die jedes Mal so einen Affenzirkus veranstalten, bloß weil ihr Vater vor der Haustür vorfährt, was er ja wohl mehrmals täglich tut, dann ist es ja kein Wunder, dass sie arm sind. Die kommen ja zu nix vor lauter Freuerei." (...)

    Kolja Michovski
    Dallas
    Dallas heißt Schkopau

    Sue Ellen und ich hatten vieles gemeinsam. Ihr Vater war liberal, meine Eltern sind Zirkusartisten. In der Serie "Dallas" spielte sie die Alkoholikerin, und ich wurde in Schkopau zum FDJ-Sekretär gewählt. Sue Ellen war sensibel, unnahbar, frisch frisiert und reich. Ihre Lippen luden ein. In ihren Achselhöhlen roch es wie im Intershop. Sue Ellen war die Antwort auf das Fach Staatsbürgerkunde.

    "Heirate mich", sagte ich. "Bald", sagte Sue Ellen. Dieses Wort sollte in den nächsten Jahren zu unserem Leitmotiv werden. Als sie zum ersten Mal auf dem Bildschirm lächelte, trafen sich unsere Blicke. Um sie und mich war es geschehen. Wie konnte ich ahnen, dass diese Bekanntschaft nicht zufällig, sondern durch Dschäiar eingefädelt worden war? Sue Ellens Mann brauchte mich für eine Intrige und glaubte, ich sei schon sechzehn und dämlicher als Pam.

    Sue Ellen war meine erste feste Freundin, und ich konnte sie perfekt imitieren. Ich legte mir ein Tuch mit Leopardenmuster um die Hüften und tänzelte durch den Konsum. Oder ahmte an der Kasse ihren Basedowschen Blick nach. Und als seien diese darstellerischen Leistungen nicht aufsehenerregend genug, sprühte ich an Schkopauer Hauswände:

    "Auf meinem Penis steht geschrieben
    Sue Ellen Ewing muß mich lieben!"
    Sue Ellen lockte mit der Chance, in die Bourgeoisie aufzusteigen. Bei dieser Multimillionärin wäre ich in Sicherheit gewesen mit einer Suite auf der Räntsch, eigenem Büro in der City, Freudentränen am Swimming Pool, Einkaufsbummel, Feuchtigkeitscreme, Seidenbettwäsche, Tagesdecken, UFOs mit Mercedessternen. Seit "Dallas" waren diese Dinge für mich gleichbedeutend mit Kapitalismus. (...)

     

     

     

     

     

     

     

     

    So toll kann doch kein Mann sein

    26. HOW DEEP IS YOUR LOVE

    Nein, es ging nicht. Ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Es war einfach zu herzergreifend, wie der gutaussehende Jürgen, Mitte zwanzig und Geschäftsführer eines Möbelladens, seinem gutaussehenden Freund Klaus, Ende zwanzig und Inhaber eines Linkshänderladens, auf die Melodie von "How deep is your love" ein wenig holpernd gestand: "Wie sehr ich dich lieb, ich dich lieb, wie sehr ich dich lieb, kann meinetwegen jeder sehen ..."

    Selbst der gutaussehende Moderator meiner Lieblingssendung "Ein Leben für die Liebe" mußte sich unauffällig ein Tränchen aus dem Augenwinkel wischen. Warum gestand mir im Fernsehen niemand seine Liebe, überlegte ich. Warum saß ich nicht zwischen all den hübschen Teenies und Twens, zu denen ich ja gerade noch gehörte, auf der Tribüne und hörte mit zitternden Knien, wie der Moderator verkündete, dass die nächste Showeinlage einer wunderbaren Frau gewidmet sei, der ein verliebter Mann endlich gestehen wolle, wie er sie doch liebe. Und dann würde Tibor in einem Smoking mit neongelber Fliege auf die Bühne treten und "Uuuuuuhhhhhuuuuuhhh I need you, uuuuuuhhhhhuuuuuhhh I love you" schmettern und drei Millionen Fernsehzuschauer könnten sehen, wie häßlich ich war, wenn ich vor Rührung heulte und sich denken, was will der Spinner mit der neongelben Fliege von dieser Heulsuse? Ach, das wäre toll.

    So aber war sicher auch Tibor inzwischen den Verführungskünsten des Galeristen erlegen und würde bald für diesen im Fernsehen singen. Heute war immerhin schon Mittwoch, und seit jenem grauenhaften Sonntagabend hatte ich nichts mehr von Tibor gehört. Brutal riß mich das Telefon aus meinen tristen Träumen.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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